Manchmal verkleiden sich Geschenke als anonyme gute Taten und gestalten so die Welt etwas freundlicher.
Ein Morgen im Dezember, sechs Uhr früh, fünf Grad minus. Es hat das erste Mal geschneit, hier und da sind schon die Schneeschieber in Aktion. Jetzt nichts wie raus aus dem Bett, denn zwischen Morgenkaffee und Büro liegen noch zwanzig Meter geschlossene Schneedecke und ein Auto, das nach der letzten Nacht im Freien sicher komplett vereist sein wird. Doch als ich aus dem Haus komme die Überraschung: Irgendjemand hat bereits den Weg rund ums Haus frei geschippt, die Autoscheiben sind vom Eis befreit. Ein Versehen? Wohl eher nicht. Denn hinter dem Scheibenwischer klemmt eine Karte: „Sie sind in den Genuss einer anonymen guten Tat gekommen. Wir wünschen Ihnen noch einen schönen Tag!”
Das Kärtchen liefert keinen Hinweis darauf, welcher selbstlose Frühaufsteher an diesem frostigen Morgen ein Stück über seinen eigenen Gartenzaun hinausgedacht hat. Komisch fühlt sich das an – als wäre es in unserer Welt normaler, beklaut zu werden, statt beschenkt. Komisch und großartig. Womit hab ich das verdient? Bei wem kann ich mich bedanken? Eine anonyme gute Tat gibt darauf keine Antwort. Und ändert genau darum die Sicht des Empfängers auf seine Mitmenschen. Schließlich könnte es jeder gewesen sein. Ist die zurückhaltende Studentin von nebenan, bei der oft bis Mitternacht noch das Licht brennt, vielleicht eine heimliche „ Amelie”, die gerade ihr nächstes poetisches Alltagswunder plant?
Verbirgt der mürrische ältere Herr von gegenüber, der ein Zwillingsbruder von Charles Dickens‘ „Scrooge” sein könnte, in Wirklichkeit ein Herz aus Gold?
Wer die Anderen als potenzielle Wohltäter zu betrachten beginnt, der ändert – das ist das wahre Geschenk – seine Weltsicht. Und gleichzeitig sitzt da irgendwo jemand, der seine stille gute Tat feiert. Er hat es geschafft, einem Anderen eine Freude zu machen, ohne Verlegenheit, ohne Verpflichtung, ohne ein „Das wäre doch nicht nötig gewesen!” So etwas macht süchtig nach mehr.
Dass Menschen gern Gutes tun, zeigt eine Studie der Universität von Oregon. Die Wissenschaftler kontrollierten bei Probanden das Belohnungszentrum im Gehirn per Kernspintomografie. Erhielten die Versuchspersonen Geld, schüttete das Belohnungszentrum berauschende Substanzen aus. Überraschenderweise reagierte es besonders aktiv, wenn die Probanden sich freiwillig für eine Geldspende entschieden.
Als Anfangsinspiration für anonyme Wohltäter können Internetseiten dienen.
Aber es dauert sowieso nicht lange, bis die Ideen von allein purzeln. Zum Beispiel kann man übernächtigten Taxifahrern ein Frühstück spendieren oder auf dem Kinositz ein kleines Dankeschön für den Reinigungstrupp hinterlassen, der nach der Vorstellung das klebrige Pop-corn entsorgen muss. Besonders schön: ein über Nacht „gewachsener” Kreidekreis in der Fußgängerzone mit dem Vermerk „Umarmungszone”. Kaum zu glauben, wer sich da alles in die Arme fällt! Oder sich zumindest lächelnd erinnert. Mit offenen Augen einkaufen gehen: die junge Frau hat vorhin, nach einem Blick in ihren Geldbeutel, die Kekse und das Päckchen Tee wieder zurück ins Regal gelegt. Ich kann die Sachen heimlich für sie bezahlen und die Kassiererin bitten, sie ihr zusammen mit einer Karte zu überreichen. Einfach so. Stille Nacht und stille Taten – jetzt ist genau die richtige Zeit, um – allein oder mit ein paar Gleichgesinnten – in diese „Verschwörung des Wohlwollens” einzusteigen. Weltweit gibt es die anonymen Hobby-Wichtel, die heimlich Einkäufe für andere bezahlen, ihre Lieblingsbücher in Warteräumen oder U-Bahnen deponieren. Sie packen Päckchen für Weihnachten im Schuhkarton. Sie schmuggeln Geldscheine in Jackentaschen, tragen im Restaurant für andere die Rechnung und verschwinden häufig unerkannt, ohne die Folgen ihrer Tat noch zu beobachten.
„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.” Erich Kästner, der kluge Geschichtenerzähler mit der Kinderseele, hat das gesagt. Naiv? Kann sein. Lieber an Organisationen spenden? Auch gut. Ehrenamtlich arbeiten? Super! Nur bitte eines nicht: zögern! Dann lieber schon mal üben mit bescheidenen Nettigkeiten, heimlich zugesteckten Eintrittskarten, Klingelstreichen, bei denen der Empfänger einen Blumenstrauß vor seiner Tür findet. Denn stille Taten sind kleine Lebenslektionen, die Lust machen, Teil der in Gang gesetzten Dynamik zu werden. Vielleicht reist die Aktion sogar, wie eine Stille Post, einmal rund um die Welt und kehrt in veränderter Form zu mir zurück? Das ist der Stoff, aus dem meine Weihnachtsmärchen sind – nur dass sie nicht mit „Es war einmal …” beginnen, sondern, frei nach John Lennon, mit: „Imagine - Stell‘ dir vor…”
Aus: Schrot & Korn – Dez. 2007
